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Zwei türkische Frauen auf dem Gehweg vor der Zeche Hannover. Schwarz-Weiß-Foto von Brigitte Kraemer.

Wege der Migration

In zwölf Kapiteln auf den Spuren der Zuwanderung ins Revier

Seit mehr als 150 Jahren ist das Ruhrgebiet ein Einwanderungsland. Millionen von Menschen sind mit der Industrialisierung ins Revier gekommen - viele mit der Hoffnung auf gutes Geld für harte Arbeit, manche aber aus Zwang oder auf der Flucht. Heute leben Menschen aus 170 Nationen im Ruhrgebiet. Mit einem dauerhaften Rundweg wird diese Geschichte auf dem Gelände der Zeche Hannover sichtbar.

Die Besuchenden folgen in zwölf Kapiteln den Spuren der Zuwanderung ins Revier, die auf Bild-Text-Tafeln mit allgemeinen Tendenzen sowie lokalen und biografischen Beispielen eindrucksvoll beschrieben werden.

Anfänge der Zuwanderung

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Ruhrgebiet von einer ländlich geprägten Region zum pulsierenden Industriegebiet. Binnen weniger Jahre gründeten sich Dutzende von Zechen und Eisenhütten. Der enorme Bedarf an Arbeitskräften konnten schon bald nicht mehr aus dem Umland gedeckt werden. Aus ganz Westfalen, dem Rheinland und Hessen zogen Menschen zur Arbeit ins Revier. Zahlreiche ausländische Investoren statteten Ihre Unternehmen mit eigenen Fachkräften und Personal aus. Zu tausenden zogen Menschen aus Irland, Belgien und Frankreich in das Ruhrgebiet; italienische Wanderarbeitende kamen als Fachleute für Steinbearbeitung und Tunnelbau.
Mit dem Boom der Industrie Ende des 19. Jahrhunderts zogen mehr als eine halbe Millionen Menschen aus Schlesien, Posen und Masuren ins Revier. Vor allem in den Zechen und Siedlungen des nördlichen Ruhrgebiets bildeten sie bald die Mehrheit. Sie waren in der Regel preußische Staatsbürger:innen, sprachen meist aber polnisch oder Dialekt und wurden im Alltag als Polen und Polinnen angesehen. Viele mussten unter Vorurteilen leiden. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ die Mehrzahl der polnischen Zuwanderer das Revier: gut ein Drittel ging zurück in den neu gegründeten Staat Polen, ein Drittel zog weiter nach Westen in die französischen und belgischen Bergbauregionen, die mit hohen Löhnen und guten Lebensbedingungen lockten.

Verfolgt, verschleppt, vertrieben

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Hunderttausende Menschen, vor allem aus Polen und der Sowjetunion, ins Ruhrgebiet gebracht und zur Arbeit gezwungen. Als Zivilarbeitende, Kriegsgefangene oder Zwangsarbeitende mussten sie in der Landwirtschaft, in Eisenhütten, Stahlwerken und Zechen unter menschenunwürdigen Verhältnissen bis zum Letzten schuften. Die meisten waren in eigens eingerichteten bewachten Lagern untergebracht, Kontakte mit der deutschen Bevölkerung waren verboten. Nach Kriegsende kehrten viele in ihre Heimat zurück. Mehr als 100.000 Menschen, vor allem aus Polen, konnten jedoch nicht zurückkehren, da ihnen Verfolgung drohte. Sie blieben als "Displaced Persons (DP)" in provisorischen Lagern zurück. Viele konnten in den Folgejahren nach Übersee auswandern. 1951 richtete das Land NRW dauerhafte Siedlungen für die noch 17.000 Menschen ein.
Für den Wiederaufbau der Industrie und Städte wurden Ende der 1940er Jahre im Ruhrgebiet dringend Arbeitskräfte benötigt. Mehr als 600.000 Flüchtlinge und Vertriebene kamen ab 1949 ins Revier, um im Bergbau, der Eisen- und Stahlindustrie oder der Textilindustrie zu arbeiten.

Gastarbeitende für das Revier

Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum brachten in den 1950er Jahren im Ruhrgebiet ein rasantes Wachstum. Flüchtlinge und Vertriebene trugen wesentlich zum Aufbau bei. Angesichts eines drohenden Arbeitskräftemangels schloss die Bundesregierung ab 1955 mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien Abkommen zur Anwerbung von Arbeitenden. Die Aussicht auf schnelles Geld lockte zunächst vor allem junge Männer aus den von Arbeitslosigkeit geplagten Regionen Südeuropas. Viele wollten schnell wieder in die Heimat zurückkehren, um sich dort eine eigene Existenz aufzubauen. Der erworbene Wohlstand führte jedoch oft dazu, dass sie länger blieben und ihre Familien nachholten. Vermehrt kamen nun auch Frauen als Arbeiterinnen für Industrie und Gewerbe. Mit der Wirtschaftskrise 1973 endete die gezielte Anwerbung.

Flüchtlinge und Spätaussiedler

In den 1980er und 1990er Jahren kamen zahlreiche Flüchtlinge und Spätaussiedler ins Ruhrgebiet. Nach dem Militärputsch in der Türkei suchten 1980 vor allem gut ausgebildete Kurden und Kurdinnen politisches Asyl. Das Verbot der Gewerkschaft Solidarnosc und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen drängte rund 100.000 polnische Aktivist:innen und Bürgerrechtler nach Deutschland. Zeitgleich nutzte gut eine Millionen Menschen aus Polen den Status als deutsche Spätaussiedler:innen zur Einwanderung nach Deutschland. Die meisten von ihnen zogen nach Berlin oder in das Ruhrgebiet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichte der die Zahl der Zuzüge 1992 einen neuen Höhepunkt.

Miteinander leben im Ruhrgebiet

Heute leben Menschen aus 170 Nationen im Ruhrgebiet. Mehr als 100 verschiedene Glaubensrichtungen werden praktiziert. Nachdem die industriellen Massenarbeitsplätze während des Strukturwandels entfallen sind, hat sich der Anteil von Kleingewerbetreibenden unter den Menschen mit Migrationsgeschichte deutlich erhöht. So finden sich heute in den großen Städten des Reviers oft Wohn- und Geschäftsviertel von Zuwanderern. Die lange Geschichte der Zuwanderung ins Ruhrgebiet und die Tradition der Solidarität der Menschen in der Region hilft heute im Ruhrgebiet oft, Lösungen für die kleinen und großen Konflikte im Zusammenleben zu finden und gemeinsame Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.